Von der Not zur Tugend
Völlig verbautes Dachgeschoss wird zu erlesener Mansardenwohnung
Es ist als tauchte man in ein vergangenes Zeitalter ein, wenn man die Bismarck- oder die Neue Kantstraße stadtauswärts in Richtung Funkturm fährt. Die großbürgerlichen Häuser, die größtenteils Ende des 19./Beginn des 20. Jahrhunderts erbaut wurden, erstrahlen zwar noch in ihrem alten Glanz, doch das Innere, die Wohnungen, können mit heutigen Standards selbstverständlich nicht mithalten. Die Architektin und Innenarchitektin Clarissa Baldini, auch in Charlottenburg-Wilmersdorf ansässig, erhielt den Auftrag, das Dach eines dieser Häuser innenarchitektonisch komplett neu zu gestalten. Der Ausbau des Daches lag schon etwas länger zurück, sodass erhebliche Modernisierungen nötig waren, um einer heutigen Ästhetik und technischen Anforderungen gerecht zu werden – allerdings ohne am Grundriss etwas zu verändern.
Das Komplizierte an der Aufgabe bestand darin, den Spagat zu vollziehen, alten Charme zu bewahren und hochwertige heutige Wohnansprüche zu vereinen. Dies scheint gelungen: Soeben bekam Clarissa Baldini für dieses Projekt den Design-Award 2025. Was zunächst als normaler Auftrag erschien, entpuppte sich als herausforderndes Unterfangen: In dem aufgestockten Dachgeschoss hatte ein früherer Ausbau stattgefunden, der so verschachtelt und verwinkelt war, dass es nahezu keinen rechten Winkel gab. Die einfachste Lösung wäre gewesen, alles abzureissen und wieder bei Null anzufangen. Diese Option stand jedoch nicht zur Verfügung, es musste mit dem vorgefundenen Gegebenheiten umgegangen werden. Clarissa Baldini drehte den Spieß um: „Ich bin der Überzeugung, dass es oft gerade die besonderen Merkmale, Eigenheiten im Bestand sind, die ein Projekt einzigartig machen, indem man den Fokus auf diese Aspekte legt und sie in einem neuen Licht präsentiert.“ Der Kunstgriff, den die Architektin anwendet, besteht also darin, die zunächst störenden Elemente zu verstärken: Sie fügt technische Einhausungen hinzu, statt diese zu reduzieren, ergänzt ebenfalls Architrave, um Raum für Einbaumöbel zu gewinnen. Nach diesem ersten entscheidenden Schritt kann der nächste gegangen werden: Die Innenraumgestaltung. Nach umfangreichen Malerarbeiten wird mit verschiedenen Beige-Nuancen gearbeitet, es werden gekonnt Lichtreflexe in Nischen und Zwischenräumen gesetzt. Werthaltige Materialien kommen z. B. als Wandbespannung zum Einsatz oder Möbelfurniere im Schlafzimmer, brünierte Messingverkleidungen und veganes Leder als Bezug der Säulen. Neue sanfte und skulpturale Einbauten runden das gesamte Arrangement ab. „Sophie-Charlotte“ – so der Name der edlen Mansardenwohnung – ist geboren.
Fotos:
Luca Girardini
www.lucagirardini-photography.com
(Erschienen in CUBE Berlin 02|25)