Patina & Zeitschichten
In einem ehemaligen Gerichtsgebäude entstehen neben Wohnraum auch andere Nutzungen
Dass ein als Einzeldenkmal unter Denkmalschutz stehendes ehemaliges Gerichtsgebäude teilweise in Wohnraum umgenutzt werden kann, zeigt das Architekturbüro Kissler Effgen + Partner. Denn mit der Sanierung entstanden in dem zwischen 1893 und 1897 errichteten „Alten Gericht“ in Wiesbaden inzwischen 48 Wohnungen unterschiedlicher Größe und die Dachgeschosse wurden im Zuge der Sanierung ebenfalls aktiviert.
Natürlich waren die Grundrisse des gründerzeitlichen Gerichtsgebäudes im Stil der Frührenaissance mit gotischen Anklängen keineswegs so angelegt, dass überall Wohnungen entstehen konnten. Einige Räume, wie die ehemaligen Gerichtssäle, schließen sogar eine Wohnnutzung aus. So entstanden in einigen der 116 ursprünglichen Räume Wohnungen, während die sieben ehemaligen Gerichtssäle heute halböffentliche und gewerbliche Nutzungen aufnehmen. Dazu gehören beispielsweise ein Co-Working Space, Seminar- und Eventräume, ein Café oder auch Räume für kulturelle Veranstaltungen. Im Laufe der Jahrzehnte hat das denkmalgeschützte Gericht bauliche Ergänzungen und Überfassungen erlebt: unterschiedliche Zeitschichten, die auch nach der Sanierung in dem Massivbau in Ziegelbauweise mit Ziegel-Kappendecken ablesbar sind. Nicht nur aus denkmalpflegerischen Gründen, sondern auch aus Gründen der Nachhaltigkeit haben die Architekten viel ursprüngliche Substanz erhalten: Rund 80 Prozent der bauzeitlichen Eichenfenster, ein großer Teil der Innentüren sowie alle Stuckdecken und Terrazzoböden wurden aufgearbeitet, zum Teil ergänzt und wiederverwendet. Die Dacheindeckung beispielsweise wurde nach historischem Vorbild mit Naturschiefer in „altdeutscher“ Deckung komplett erneuert. Wo immer so erneuert werden musste, orientieren sich die eingesetzten Materialien vor allem an dem vorgefundenen Bestand. Um eine moderne Haustechnik, Schallschutz und Brandschutz zu gewährleisten, haben die Architekten auch Komponenten gewählt, die heutigen Standards entsprechen, diese jedoch so eingesetzt, dass sie nicht im Vordergrund stehen. Auch einige Gebäudeteile wie Dachstuhl, Ziergiebel, Gauben oder Balkone mussten neu gefertigt werden. Solche neuen Elemente ergänzen den Bestand jedoch schlüssig, sodass eine spannende Beziehung zwischen At und Neu entsteht. Auch nach den Sanierungsarbeiten ist an vielen Stellen die Patina des über 125 Jahre alten Gebäudes erhalten und die Baugeschichte des Hauses wird dadurch für Bewohner:innen und Besucher:innen erfahrbar.
Fotos:
Dietmar Strauss
www.dietmar-strauss.de
(Erschienen in CUBE Frankfurt 03|23)