Magisches Coworking
Vom Mythos zur Realität und wieder zurück von Matthias Horx
Seit fast 20 Jahren kennen wir nun die Bilder, auf denen junge Typen mit Dreitagebart (ja, fast nur Männer) in fröhlichen Interieurs sitzen, im Hintergrund ein Tischfußballgerät und Apfelsinenkisten als coole Sofas umgebaut, Industrielampen hängen von der Decke und es läuft Ambient Techno. Hipster, die auf Bildschirme starren. Coworking – das ist jenes Mem, jener kulturelle Code, der seit der goldenen Start-up-Zeit um die Jahrtausendwende eine neue Arbeitswelt propagandierte, die alles auf den Kopf stellen wollte. Hierarchien zum Beispiel. Organisationssysteme, bürokratisierte Arbeitsformen, die sowieso früher oder später von den Maschinen übernommen werden. Coworking, so der Mythos, markiert das allmähliche Ende der industriellen Arbeitsformen mit ihrem Kästchen- und Zeitdenken, ihren Abhängigkeiten und Butterstullen-Kaffee-Automaten-Routinen. Zu einem ordentlichen Coworking Space gehört ein Barista und ein Vegan Buffet. Je mehr Digitales in die Arbeitswelt fließt, desto mehr brauchen wir wieder das Menschlich-Authentische, aber auch das Human-Natürliche. Je mehr knallhartes Business, desto wichtiger die Kultur. Und ja doch: das Design.
Coworking hat inzwischen einen langen Weg hinter sich. In der Bankenkrisen, als alle an einen echten Zusammenbruch des Kapitalismus glaubten, wanderten ganze Trupps von Schlipsträgern in die rostigen Fabriketagen, weil die Konzerne versuchten, ihren Anzugbrigaden kreatives Denken und jene Flexibilität beizubringen, die offensichtlich vor der Krise gefehlt hatte (kurz bevor man sie dann doch entließ, ähhh, „freisetzte“). Ein bekannter Berliner Coworking-Betreiber erzählte mir im Jahr 2012: „Alle meine Spaces sind von Siemens und Deutsche Bank besetzt, es ist die Pest!“
Das war irgendwie nicht ganz der Sinn der Coworking-Bewegung, die doch angetreten war, der kreativen Klasse, der neuen Gesellschaft von Digitalunternehmern und Self-Entrepreneuren, eine Heimat zu bieten. Und sie blühte und gedieh weiter. Heute befinden sich in den europäischen Großstädten Hunderte, nein Tausende von „Spaces“ in allen erdenklichen Konzepten; vom „Worktribe“, der eher wie eine AG funktioniert, bis zum hochmodernen Smart Office mit eingebauter künstlicher Intelligenz. Inzwischen tauchen die „Spaces“ auch in der tiefsten Provinz auf: „Tobi hat im tiefsten Bayern einen Coworking Space aufgebaut“ – in Viechtach, Niederbayern. Wo irgendwo eine schrottige Fabrik steht, ist morgen schon New Work.
Aber wie das mit radikalen Bewegungen so ist: Sie erzeugen irgendwann eine Rekursion, eine innere Rückwirkung, einen Widerspruch in sich selbst. WeWorks, der größenwahnsinnige Versuch, aus einer globalen Coworking-Kette einen Riesen wie Amazon zu formieren, scheiterte auf hohem Niveau (und mit asiatischem Spielgeld). Dann begann eine Debatte, die die dunklen Seiten der neuen Arbeitswelt beleuchte. Die „Gig Economy“, wie sie sich in den USA entwickelte, zeigte, wie umstandslos der Kapitalismus die „Selfpreneure“ zu prekären Billiglohn-Dienstleistern umzudrehen vermag. Flexwork bedeutete plötzlich irrwitzige Arbeitszeiten, und man musste auch noch selbst sein Fahrrad dazu stellen. Gleichzeitig fluteten New-Work-Initiativen durch die großen Firmen: Teamwork, Flexwork, Selbstorganisation – all das sind heute keine Fremdwörter mehr in der „Old“ Economy. Ich kann bei meinen Unternehmensbesuchen manchmal das Hauptquartier nicht mehr ganz von einem Coworking Space unterscheiden; es fehlt zwar manchmal der Barista, aber der ist in den meisten „Spaces“ auch schon verschwunden.
In gewisser Weise wurde Coworking Opfer des eigenen Erfolges, einer Art Selbstprofanierung. Ist Arbeit im postindustriellen Zeitalter nicht immer „Co-“, also Kooperation und Vernetzung und Kreativität? Heute spricht selbst der Schraubenhersteller von „Work-Life-Balance“, Behörden veranstalten Kreativwochendenden für die gesamte Belegschaft und Software-Riesen wie die SAP haben einen Achtsamkeits-Guru. Aber die Coworking-Bewegung wird zurückkommen. Wie jede wahrhaft radikale Bewegung erlebt sie irgendwann eine zweite Welle, in der sie zur wahren Geschichtsmächtigkeit aufsteigt. Das wird dann der Fall sein, wenn „Vernetzung“ mehr ist als schöne Propagandaformel, sondern auch Macht und Geld betrifft. Wenn sich also die kreative Klasse eine Organisationsform schafft, die sie in eine echte Verhandlungsposition gegenüber ausbeuterischen Strukturen bringt. Wenn mehr Frauen in dieser neuen, postindustriellen Arbeitswelt auftreten. Im Greta-Zeitalter entstehen neue Themen für die Coworking-Bewegung: Die Umweltfrage wird brandheiß, „Carbon free working“ steht vor der Tür. Es ist noch viel zu tun. Oder auch: Jetzt wird es richtig ernst. Wir wollen nicht nur am Tischfußball spielen, sondern Arbeit wirklich umkrempeln – im Sinne eines neuen, ganz anderen Kapitalismus, der dann eben keiner mehr ist.
Matthias Horx
Der Gründer des Zukunftsinstituts gilt heute als einer der einflussreichsten Trend- und Zukunftsforscher im deutschsprachigen Raum. Matthias Horx ist profilierter Redner zu sozialen, technologischen, ökonomischen und politischen Trends. Das Zukunftsinstitut wurde 1998 gegründet und hat die Trend- und Zukunftsforschung in Deutschland von Anfang an maßgeblich geprägt. Heute gilt das Institut als einer der einflussreichsten Thinktanks der europäischen Trend- und Zukunftsforschung und ist die zentrale Informations- und Inspirationsquelle für alle Entscheider und Weiterdenker.
www.zukunftsinstitut.de
(Erschienen in CUBE Inspire Coworking 2019)