Heide G. Schuster im Gespräch
Wie lässt sich Nachhaltigkeit in Architektur und Städtebau umsetzen?
CUBE: Sie sagen: „Nachhaltigkeit ist kein Selbstzweck, sondern eine Notwendigkeit.“ Was verstehen Sie darunter?
Heide Schuster: Nachhaltiges Entwickeln, Planen, Bauen und Betreiben stellen sicher, dass die Idee der Nachhaltigkeit – also die drei klassischen Säulen Ökologie, Ökonomie, Soziales – im Gleichgewicht bleiben. In der gebauten Umwelt geht es dabei um mittel- und langfristige Perspektiven. Die Sanierungszyklen betragen heutzutage 75 Jahre im privaten Sektor. Mit anderen Worten: Was wir heute in der Entwicklung und Planung nicht leisten, müssen wir die nächsten 75 Jahre „ausbaden“. Wird heute energetisch schlecht gebaut, werden wir die nächsten Jahrzehnte nichts mehr daran ändern können. Wenn man dazu die steigende Weltbevölkerung und den stark steigenden Energiebedarf – dies nur als zwei Punkte stellvertretend für viele weitere Entwicklungsprognosen – betrachtet, so wird schnell klar, dass wir heute handeln müssen, um die Folgen für die Zukunft zumindest ein wenig abzumindern.
Dazu kommen die sogenannten Rebound-Effekte, beispielsweise zum Thema Energie und Wohnfläche. Energetisch haben wir im Neubau theoretisch einen sehr guten Standard erreicht; dagegen steht jedoch die ansteigende Wohnfläche pro Kopf. Diese liegt aktuell bei bereits 40 m2, Prognose stark ansteigend. Der Energieeinspareffekt wird also durch die steigende Wohnfläche pro Kopf insgesamt wieder aufgehoben.
Nachhaltiges Planen, Bauen und Betreiben setzen daher eine weit über Zertifikate, Energieeinsparverordnungen usw. hinausgehende Betrachtungsweise voraus. Vielmehr ist eine ganzheitliche Sichtweise im weitesten Sinne notwendig. Dabei spielt auch das Thema der Suffizienz eine Rolle. Müssen wir immer komfortabler, schneller, höher, weiter? Oder ist ein bestimmter Standard auch einfach ausreichend, um ein gutes Maß an Komfort zu erreichen. Hier gibt es noch eine Menge Forschungsbedarf. Ein weiteres Thema ist der Klimawandel. Wieviel Sinn macht es, Gebäude jetzt (für die nächsten 75 Jahre) auf Basis der aktuellen Klimadaten zu sanieren? Stellt man Wärmebedarf und Kühlenergiebedarf beispielhaft gegenüber, so wird das Paradox deutlich. Ein großer Teil der eingesparten Wärme wird für zusätzliche Kühlenergie in Zukunft benötigt werden. Denn bereits ab 26 °C Nachttemperatur sinkt die Schlafqualität, wir reden also auch von gesundheitlichen Auswirkungen. Bezieht man dazu noch den aufgrund des Klimawandels ansteigenden Wärmeinseleffekt in Städten mit ein, verschärft sich die Lage in Bezug zur sommerlichen Überhitzung. Aus diesem Grund arbeite ich sowohl im Büro als auch an der Hochschule verstärkt an den Schnittstellen zwischen Gebäude und Städtebau.
Welche Maßnahmen tragen zu einer positiven Bewertung des Lebenszyklus‘ eines Gebäudes bei?
Grundsätzlich gibt es hier natürlich zwei Ansätze: Zum einen die Lebenszykluskostenrechnung und zum anderen die Ökobilanz, bei der die graue Energie, also der Herstellungsprozess eines Gebäudes, der gesamte Betrieb sowie der Rückbau mit betrachtet werden. Ersteres sorgt dafür, dass auch höher investive Maßnahmen ganzheitlich über den Lebenszyklus betrachtet werden und die Einsparungen, beispielsweise im Energiebedarf, deutlich werden. Mit anderen Worten: Investiert man jetzt in energiesparende Technologien, so erntet man langfristig den Erfolg, auch in finanzieller Hinsicht. Dies ganz besonders vor dem Hintergrund steigender Energiepreise – langfristig gesehen.
Bei der Ökobilanz – also der Betrachtung von Energie und Umweltwirkungen, die von einem Gebäude ausgehen – sollte auf lokal erhältliche Materialen mit geringer grauer Energie geachtet werden. Damit wird sichergestellt, dass der Energieanteil für Transport und Herstellung geringer ausfällt. Bei den heute bereits möglichen Null- oder Plusenergiehäusern und entsprechend hochwärmegedämmten Gebäuden kann der Anteil an Energie für die Herstellung bereits um die 40 % ausmachen.
Daneben macht es Sinn, sich mit dem Thema der Emissionen auseinanderzusetzen, um Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit von Nutzern zu minimieren, beispielsweise bei Farben und Bodenbelägen. Auch die Austauschzyklen von Materialen spielen eine große Rolle. Ein hochwertiger Fliesen- oder Parkettboden ist im Lebenszyklus betrachtet immer die bessere Investition gegenüber günstigen Produkten, die alle zehn Jahre ausgetauscht werden müssen.
Eine weitere Maßnahme – hier stehen wir im Bausektor jedoch noch am Anfang – ist das recyclinggerechte Bauen. Was hilft es, wenn wir super gedämmte Gebäude bauen, deren Bestandteile jedoch am Ende ihrer Lebenszeit nicht zu demontieren und zu rezyklieren sind. Neben der Auswahl der Materialien spielt daher die Konstruktion eine zunehmend wichtige Rolle. Übrigens insbesondere auch in der Sanierung. Die klassischen geklebten Wärmedämmverbundsysteme führen dazu, dass wir Sondermüll in großen Mengen produzieren (die freilich erst in 50 bis 75 Jahren ein Problem werden).
Wenn man das Ganze im Lebenszyklus betrachtet, wird man sehr schnell feststellen, dass dies wenig Sinn macht. Aber, die Lebenszyklusbetrachtung ist komplex und nicht Bestandteil der HOAI, also wird sie schlicht nicht durchgeführt, außer für die wenigen Gebäude im Neubaubereich, die nach DGNB oder BNB zertifiziert werden. Hier gibt es in den nächsten Jahren großen Nachbesserungsbedarf.
Worauf kommt es für Sie bei einem effektiven Entwurfsprozess an?
Neben grundlegenden Kenntnissen der Zusammenhänge von Klima, Gebäudeentwurf und den Auswirkungen im Lebenszyklus spielt natürlich das Thema Energie eine sehr große Rolle. Effektiv – im Sinne des nachhaltigen Bauens – ist ein Entwurfsprozess immer dann, wenn alle (lebenszyklusrelevanten) Themen von Beginn an in den Entwurfsprozess mit einfließen. Interdisziplinarität und integrale Planung sind hier die wesentlichen Stichworte. Aber auch geeignete Tools, die im Vorentwurf bereits eingesetzt werden können, um beispielsweise die Entwicklung des Entwurfs energetisch und im Lebenszyklus bewerten zu können. Im weiteren Verlauf der Planung werden dann je nach Aufgabenstellung unterschiedliche Simulationstools zum Einsatz kommen, die beispielsweise das thermische Verhalten des Gebäudes abhängig vom tatsächlichen Standort, der realen Umgebung und des entsprechenden Nutzungsprofils realistisch abbilden können.
Architekten können einen ganz wesentlichen Beitrag mit ihrem Entwurf leisten. Aus diesem Grund plädiere ich beispielsweise für eine umfassende Bewertung von Wettbewerbsbeiträgen. Ein Entwurf, der nach gültiger EnEV optimal ausgestattet ist, wird im Lebenszyklus und energetisch pro Kopf statt pro Quadratmeter Fläche gerechnet beispielsweise vielleicht schlechter abschneiden, als ein Entwurf, der mit einem Low-Tech-Ansatz, weniger aufwändiger Dämmung usw. daherkommt, dafür aber flächenoptimiert ist und beispielsweise eine optimale Tageslichtversorgung nutzt. Die Kritik geht an das Thema Energieausweis, der fälschlicherweise immer wieder als Messlatte für Energieeffizienz gesetzt wird. Es handelt sich jedoch um ein Standardrechenverfahren, welches, ähnlich dem Benzinverbrauch eines Autos, unter nicht realen Bedingungen berechnet wird. Oh Wunder, Berechnung und Verbrauch stimmen am Ende nicht überein. Das Plädoyer geht also ganz klar an die frühzeitige Integration des Lebenszyklusgedankens.
Welche natürlichen Ressourcen können wir beim Bauen nutzen, um neben der Energieeinsparung auch wesentlich zum Komfort und zur Leistungsfähigkeit der Gebäudenutzer beizutragen?
Eine ganz zentrale und wesentliche Ressource ist das Tageslicht bzw. die Sonneneinstrahlung. Ein gutes Gebäude nutzt diese nicht nur „aktiv“ zur Stromerzeugung sondern vor allem auch „passiv“ für die optimale Beleuchtung von Innenräumen. Mit solchen Strategien kann nicht nur Strom für Kunstlicht gespart werden, sondern die Leistungsfähigkeit von Nutzern gesteigert und der Komfort erhöht werden. Auch eine effektive Lichtlenkung kann hier positive Effekte erreichen, auch in der Sanierung. Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen haben dies bereits gezeigt. Solch eine optimierte Tageslichtnutzung bedingt jedoch eine sehr gute Planung. Eine frühzeitige Optimierung dieses absolut entwurfsrelevanten Themas ist daher unabdingbar. Das setzt die Kenntnis über das Verhältnis von natürlicher Beleuchtung, Überhitzungspotential und vor allem Kubatur und Raumorientierung voraus.
Warum halten Sie das ortsspezifische Bauen für wichtig?
Das ortsspezifische Bauen beinhaltet nicht nur den Umgang mit lokalen Klima- und Standortbedingungen, sondern auch die Berücksichtigung von kulturellen Unterschieden. Ich habe in meiner – mittlerweile ja nicht mehr ganz so kurzen Laufbahn – sehr viel international geplant. Gebäude- und Raumkonzepte, die bei uns in Deutschland gut funktionieren, sind für andere kulturelle Hintergründe oft nicht realisierbar. Zudem haben wir selbst in Deutschland sehr unterschiedliche Klimaregionen, denen man Rechnung tragen sollte. Die energetischen Auswirkungen können hier enorm sein. Betrachtet man das Ganze weniger auf Einzelgebäudeebene, sondern vielmehr auf städtebaulicher Ebene wird es noch spannender. Das Mikroklima, also das den Menschen und das Einzelgebäude direkt umgebende Klima kann selbst innerhalb einer Stadt enorm abweichen. Daher ist nicht nur im Gebäude, sondern insbesondere auch in der umliegenden Umgebung Sonneneinstrahlung, Durchlüftung und Materialwahl zu betrachten. Diese beeinflussen ganz direkt die Energiebilanz eines einzelnen Gebäudes. Des Weiteren spielt natürlich die Materialverfügbarkeit eine wesentliche Rolle, da sind wir dann wieder zurück beim Thema Lebenszyklus. Nicht alle Materialien sind gleichermaßen für einen Standort geeignet oder verfügbar.
Frau Schuster, wir danken für das Gespräch.
Das Interview führte Annette Galinski.
Prof. Dr.-Ing. Heide G. Schuster
2014 Professur für Energiedesign, Frankfurt University of Applied Sciences
2013 Gründung von BLAUSTUDIO – Nachhaltigkeit in Architektur und Städtebau, Stuttgart
2007 bis 2013 Mitglied der Geschäftsleitung, Leitung operatives Geschäft bei WSGreenTechnologies GmbH, Stuttgart
2007 Mitarbeit im Fassadenengineering bei Werner Sobek, Stuttgart, Aufbau WSGreenTechnologies GmbH
2007 Mitinitiatorin, Gründungsmitglied, Systementwicklung Büroneubau und Handelsbau, Auditorin für Gebäude und Städtebau bei DGNB Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen
2000 bis 2007 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Dortmund, Lehrstuhl für Klimagerechte Architektur, Prof. Dr.-Ing. Müller
2006 Promotion: Tageslichtsysteme im Spiegel der Nutzer, Dissertationspreis der Universität Dortmund