Beton zum Streicheln
Die großen Panoramafenster sowie die teilweise weit auskragenden Dachüberstände schaffen ein offenes, transparentes Gesamtbild und verleihen dem langen Flachbau aus Beton viel Leichtigkeit.
Die „Betonoase“ ist ein Jugend- und Familienclub im Stadtteil Lichtenberg, inmitten von sechs- bis zwanziggeschossigen Wohnhochhäusern. In direkter Nachbarschaft befindet sich mit dem „Hans-Loch-Viertel“ die erste Neubau-Großsiedlung in Ost-Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg. Doris Gruber und Bernhard Popp hatten mit ihrem Architekturbüro den ausgeschriebenen Wettbewerb gewonnen, um nur wenige hundert Meter vom alten Standort der Lichtenberger Betonoase ein neues Gebäude zu entwerfen.
Die Architekten versuchten gar nicht erst, die Oase als einen Ort fremder Exotik zu inszenieren. Das neue Gebäude ist aus nichts anderem als Beton gefertigt und passt sich somit der Umgebung an. Der Beton ist allerdings kein gewöhnlicher. Bei dem 2019 fertiggestellten eingeschossigen Gebäude kam innovativer Infraleichtbeton zum Einsatz. Der vom Ingenieurbüro Schlaich Bergermann entwickelte neue Werkstoff hat durch die Beimischung von Blähtongranulat einen hohen Luftanteil und ist deshalb so leicht, dass er sogar schwimmen könnte. Das moderne Material hat nicht nur eine hohe Tragfähigkeit, sondern auch sehr gute Dämmeigenschaften. Aufgrund der Wandstärke von 50 cm ist bei der Betonoase keine zusätzliche Wärmedämmung erforderlich. Der Leichtbeton eröffnete den Architekten ebenso die Möglichkeit, monolitisch zu bauen. Innen wie außen sind die Wände gleichermaßen in Sichtbeton ausgeführt. Das Gebäude wirkt deswegen nicht brutalistisch kühl. Die klaren, sachlichen Formen vermeiden jede Form von abweisender Monumentalität. Die großen Panoramafenster sowie die teilweise weit auskragenden Dachüberstände schaffen ein offenes, transparentes Gesamtbild und verleihen dem langen Flachbau viel Leichtigkeit. Der neuartige Beton entwickelt sogar eine eigene Haptik. Er fühlt sich weich und warm an und lädt regelrecht ein, die Wände zu streicheln.
Auch im Inneren des Gebäudes bleibt der Materialkanon schlicht und unverfälscht. Neben den Sichtbetonwänden finden sich aus Sperrholzplatten gefertigte Wände, Fächer, Schränke, Bänke oder Nischen. Die Küchentresen nehmen eine zentrale Position im Gebäude ein und sind ebenfalls aus Sperrholz gefertigt. In die Decken eingelassene Oberlichter sorgen zusammen mit den vielen unterschiedlich großen Fenstern für viel Helligkeit in den Räumen. Den matt schimmernden Gussasphaltboden interpretieren die Jugendlichen auf eigene Weise. Dessen spiegelglatte Oberfläche nutzen sie zum Beispiel, um dort ihre Breakdance-Künste zu trainieren. In separaten Räumen finden sich eine Keramikwerkstatt mit Brennofen, ein Computerraum und ein Fitnessstudio. Die neue Betonoase hat sich schnell zu einem identitätsstiftenden Ort für die gesamte Nachbarschaft entwickelt. Das Gebäude inszeniert kein lautes Spektakel, sondern strahlt viel Ruhe und Gelassenheit aus. Es gibt in der Oase inmitten der Betonwüste zwar keine Palmen, aber ein begrüntes Dach sowie neu entstandene Gartenflächen.
Fotos:
Alexander Blumhoff
www.alexander-blumhoff.com
Hanns Joosten
www.hannsjoosten.de
(Erschienen in CUBE Berlin 01|20)