Präzise Überlagerung
Alt und neu harmonisieren in spannungsvollem Kontrast
Um ihre Qualitäten herauszuarbeiten, wurde an einer gründerzeitlichen Hamburger Villa von 1913 eine umfangreiche Sanierung durch das Architekturbüro Reichwald Schultz vorgenommen. Diese umfasste neben dem Abbeizen der zahlreichen Altbeschichtungen auch eine Aufarbeitung der Holzfenster und der bauzeitlichen Schmuckgesimse. Dazu erfolgte ein Neuaufbau der Fassade unter Verwendung von mineralischen Putzen und Silikatfarben. Im Zuge dieser Baumaßnahmen ergab sich die Chance, den vorhandenen Wintergarten, der in den 1980er-Jahren angebaut wurde, abzureißen. Die Idee war, mit einem Neubau an gleicher Stelle eine zeitgemäße Architektur zu realisieren, die von größtmöglicher Offenheit geprägt sein sollte. Die Kubatur des neuen Anbaus wurde durch die engen Baugrenzen bestimmt, die die hier geltende städtebauliche Erhaltungsverordnung vorgab.
Das historische Bestandsgebäude mit seinen zeittypischen Raumfolgen, den kleinteiligen Sprossenfenstern und der nördlichen Ausrichtung des Wohnbereiches steht nun im spannungsvollen Kontrast zum modernen Anbau, denn dieser präsentiert sich mit raumhoher Verglasung und Schiebetüren, die sich über die stützenfreie Ecke großzügig nach Süd-Westen öffnen lassen. So entsteht eine neue Raumflucht vom rückwärtigen privaten Gartenbereich über die zentrale Halle der Villa bis hin zum neuen Glaskubus mit dem angrenzenden repräsentativ gestalteten Vorgarten.
Das charakteristische Spiel von Schwarz und Weiß, das schon die historische Villa prägt, wurde auch auf den neuen Wintergarten übertragen. Über seinen schwarzen Fenster- und Blechprofilen scheint das filigrane weiße Stahlgeländer der Dachterrasse zu schweben. Auch das Rautenmuster der Stuckdecke des Wohnzimmers im Altbau griffen die Architekten auf. Es findet seine Entsprechung im Holztragwerk des Neubaus. Diese rautenförmige Holzkassettendecke wurde in allen Komponenten einschließlich der Bohrungen für die Deckenleuchten in der Werkstatt vorgefertigt, dann in einen umlaufenden Stahlrahmen eingepasst und so in einem Stück auf die Baustelle geliefert. Binnen weniger Stunden erfolgte die Montage mithilfe eines Autokrans auf die vorab erstellten Wandauflager und vier minimierte Stahlstützen an der Außenfassade. Um weitere Bauzeit einzusparen, ließen die Architekten die hochwertigen Fenster- und Schiebetürenelemente parallel zur Deckenkonstruktion anfertigen, da die Schnittstelle dieser beiden Gewerke im präzisen Stahlbau lag. Auf den Fundamenten des alten Wintergartens konnte ebenfalls wieder neu aufgebaut werden. Neuartige Punktlichtleuchten in den Holzkassetten strahlen direkt nach unten und erhellen durch einen seitlichen, ringförmigen Reflektor indirekt das jeweilige Deckenfeld. Hierdurch sind vielfältige Lichtszenarien und -stimmungen möglich.
Der erneuerte Plattenbelag der Außenterrasse wird in den Innenraum weitergeführt, in ihn ist – korrepondierend zur Rautenkassettendecke – ein „Teppich“ aus Terrakottafliesen im Rosenspitzmuster eingebettet. Innen- und Außenraum überlagern sich so und führen konsequent die Idee der großzügig frei gespielten Süd-West-Ecke fort.
(Erschienen in CUBE Hamburg 04|19)