Neue Architektur in Südtirol 2018-2024
Vierte Ausgabe des Ausstellungs- und Publikationsprojekts
In Zusammenarbeit mit der Architekturstiftung Südtirol und dem Südtiroler Künstlerbund präsentiert Kunst Meran die vierte Ausgabe des Ausstellungs- und Publikationsprojekts „Neue Architektur in Südtirol 2018-2024“. Nach den erfolgreichen ersten drei Ausgaben (2006, 2012, 2018) bietet die aktuelle Edition erneut eine umfassende Bestandsaufnahme des baukulturellen Entwicklungsprozesses in Südtirol. Sie erzählt die jüngste Architekturgeschichte des Landes und spiegelt die fortschreitenden Transformationen der Baulandschaft wider. Die Auswahl wurde von einer internationalen Jury getroffen, bestehend aus dem Kurator Filippo Bricolo (I), Architekt (Bricolo Falsarella Architetti) und Dozent am Polytechnikum Mailand, Annette Spiro (CH), Architektin (Spiro + Gantenbein Architekten ETH/SIA AG), em. Professorin für Architektur und Bauingenieurwesen, ETH Zürich, und Elisa Valero Ramos (ES), Architektin und Professorin für Architektur an der Escuela Técnica Superior de Arquitectura, Universität Granada. Das Ausstellungsprojekt zeichnet somit insgesamt 24 Jahre Architekturgeschichte in Südtirol nach, vom Jahr 2000 bis heute.
Für die nun kommende vierte Ausgabe, die den Zeitraum 2018-2024 beleuchtet, traf die Fachjury zunächst eine Vorauswahl aus über 240 eingereichten Bauprojekten. Nach Besichtigung zahlreicher Bauten vor Ort wurden 28 Main Projects ausgewählt, die in der Ausstellung und im Bildband ausführlich präsentiert werden, sowie eine zweite Gruppe von 28 Special Mentions, die in reduzierter Form vorgestellt werden. Wie der Kurator Filippo Bricolo in seiner Einführung im begleitenden Bildband erläutert, dreht sich das Ausstellungsprojekt um zwei grundlegende Fragen: Gibt es eine Südtiroler Architektur? Und wenn ja, was zeichnet sie aus? Dieses als Studie und nicht als Wettbewerb konzipierte Projekt, ermöglicht durch die eingehende Analyse der international besetzten Jury eine Veranschaulichung der regionalen Architektur aus einer externen Perspektive. Dabei treten immer wieder Aspekte zutage, die den Entwicklungsprozess im Hinblick auf verschiedene Faktoren, wie den Austausch mit anderen Regionen, die Ausschreibung von Architekturwettbewerben und die Bedürfnisse der Bauherren, kennzeichnen.
Während in den letzten Ausgaben ein geografischer Ansatz verfolgt wurde, bei dem die ausgewählten Projekte nach Tälern unterteilt waren, um Unterschiede und Besonderheiten auf kleinem Raum aufzuzeigen, hat sich die Jury in dieser Ausgabe für einen neuen Ansatz entschieden. Der überlegte und sorgsame Umgang mit Baustoffen und Ressourcen, die Berücksichtigung von Materialherkunft und Umweltverträglichkeit sowie der soziale Nutzen der Bauwerke bildeten die Auswahlkriterien. In der Auseinandersetzung mit diesen Aspekten kristallisierten sich nach und nach „Familien“ heraus, die sich – jenseits individueller gestalterischer Handschriften oder unterschiedlicher Nutzungszwecke – durch Ähnlichkeiten, gemeinsame Ansätze und planerische Fragestellungen auszeichnen.
Die Kategorien, die der Ausstellung und dem begleitenden Bildband als Struktur dienen, sind als mögliche Interpretationen der verschiedenen Ausprägungen der Südtiroler Architektursprache gedacht und stellen ein nützliches wie diskursives Instrument zu deren Erforschung und Betrachtung dar.
Die Kategorie „Reflexive Wiederverwendung“ vereint eine Auswahl an Projekten, die sich mit der architektonischen Umnutzung älterer Bauten beschäftigen. Dabei werden verschiedene Bauwerke miteinander verglichen, die sich sowohl in ihrer Entstehungszeit als auch in ihrer ursprünglichen Funktion stark unterscheiden. Lukas Wielander und Martin Trebo haben beispielsweise ein mittelalterliches Gebäude im Herzen von Glurns zu Wohn- und Geschäftsräumen umgebaut. Das Projekt ist ein besonders gelungenes Beispiel für eine behutsame Sanierung, die mit modernen Mitteln den Bestand an heutige Wohnbedürfnisse anpasst und gleichzeitig mit seiner Geschichte in Einklang bringt. Markus Scherer hingegen hat mit seinen Arbeiten an einem Klosterkomplex und einer Schule in Meran Maßstäbe für die Verbindung von Neuem und Bestehendem gesetzt. Auch für die Wiedergewinnung von Bauten des 20. Jahrhunderts gibt es zahlreiche Beispiele, wie das Projekt von ModusArchitects. Mit der Cusanus-Akademie in Brixen, einem Meisterwerk des Architekten Othmar Barth (1927-2010), ist es dem Brixner Büro gelungen, einen zeitgenössischen Stil mit den Gestaltungsprinzipien zu verbinden, die Barth seinerzeit inspirierten.
Die Stadt Brixen liefert in der Themenwelt „Urbane Evokationen“ eine Fallstudie über die Beziehung zwischen Architektur und historischem Kontext. Projekte wie die Stadtbibliothek von Carlana Mezzalira Pentimalli demonstrieren, wie ein Dialog mit der Vergangenheit der Stadt möglich ist, ohne auf experimentelle Ansätze zu verzichten, und gelten als Paradebeispiele für den Umgang mit historischen Zentren. Neben dem Dialog mit der Stadt findet auch ein Dialog mit der Natur statt, der in einer Region wie Südtirol nicht fehlen darf. In der Rubrik „Natürliche Architektur“ („Architettura naturans“) finden sich ausgewählte Architekturbeispiele, die aus einer direkten Beziehung zur Natur entstanden zu sein scheinen, wie etwa der neue Keller des Weingutes Pacherhof in Neustift bei Brixen, umgesetzt vom Architekturbüro bergmeisterwolf. Dieses Gebäude übersetzt die umgebende Bergwelt harmonisch in Architektur und ist eines der bedeutendsten Beispiele für Weinarchitektur, das mit zahlreichen internationalen Preisen und Auszeichnungen gewürdigt wurde.
Die Kategorie „Beteiligte Topografie“ hingegen umfasst Bauwerke, bei denen die Beziehung zum Gelände und dessen oft unwegsamen Verlauf ein entscheidender Aspekt ist. Das Zivilschutzzentrum Ritten von Roland Baldi Architects, das eine neue Zentrale für Feuerwehr, Bergrettung und Weißes Kreuz beherbergt, scheint sich mit seiner einfachen, skulpturalen Form in den natürlichen Hang zu integrieren. Die Betonfassade, inspiriert von den sogenannten „Erdpyramiden“ (geologische Formationen in dieser Gegend), verstärkt den Effekt, dass das Gebäude aus dem Boden zu wachsen scheint und ein Teil davon wird. „Plausible vernakuläre Baukunst“ thematisiert anhand ausgewählter Projekte die Beziehung zu traditionellen Lebensformen, die weder inszeniert noch heruntergespielt wird. Ein Beispiel dafür ist der Zierhof mit Stube im Pflerschtal von NAEMAS Architekturkonzepte, der nach der Zerstörung des Hofes durch einen verheerenden Brand neu errichtet wurde. Mit einer Architektursprache, die an das ursprüngliche Gebäude erinnert und gleichzeitig einen zeitgenössischen Ansatz verfolgt, erforscht das Projekt das heilende Potenzial der Erinnerung. Auch die Projekte von Pedevilla Architects (das gemeinsam mit Willeit Architektur realisierte Servicegebäude am Kreuzbergpass und das ciAsa Aqua Bad Cortina in St. Vigil in Enneberg) schaffen es, Tradition und Innovation einfühlsam miteinander zu verbinden, wobei der Schwerpunkt auf Nachhaltigkeit und der Förderung der Handwerkskultur liegt.
In der Kategorie „Fruchtbare Ausgrabungen“ finden sich architektonische Eingriffe, die mit Abstraktion arbeiten, wie die Musealisierung der Stadtmauer von Meran der Höller und Klotzner Architekten. Durch die Verwendung von einfachen Stahlprofilen, die an die ursprünglichen Abmessungen der Mauern erinnern, die bei den Ausgrabungsarbeiten rund um die Landesfürstliche Burg zum Vorschein kamen, gelingt es dem Projekt, die Präsenz dessen, was nicht mehr da ist, wieder zum Vorschein zu bringen und die Erinnerung daran zu bewahren.Die Innenarchitektur wird in der Rubrik „Poetisches Innenleben“ thematisiert, mit Projekten, die sich jenseits eines internationalen Stils bewegen oder lokale Tendenzen im touristischen Sinne aufgreifen und die weniger erforschte Pfade erkunden. Martin Feiersingers Art Library auf Schloss Gandegg bei Eppan spielt mit kühnen Kontrasten, in denen farbige Installationen und Einrichtungsgegenstände in einen spielerischen Dialog mit dem bestehenden Gebäude treten.
Die Sparte „Kunst und Architektur“ befasst sich mit einer Verbindung, die für die wesentlichen Trägerinstitutionen der Ausstellung von zentraler Bedeutung ist. An dieser Stelle finden Projekte wie die Halle 3 von Julian Tratter und Markus Hinteregger Beachtung. Bei der Erweiterung des Firmensitzes von barth Innenausbau in Brixen wurden zum einen neue Gemeinschaftsräume für die Mitarbeiter*innen geschaffen sowie auch eine Galerie für zeitgenössische Kunst eingerichtet und verschiedene Künstler*innen einbezogen. Auf eine etwas andere Art findet Kunst auch Einzug in das Projekt von Walter Angonese und den Architekten Flaim Prünster für die Kellerei St. Michael in Eppan. Die Decke des Traubenanlieferungsbereichs wurde von dem Künstler Manfred Alois Mayr durch die Installation von mehr als 600 großen, auf dem Kopf stehenden violetten Bottichen gestaltet, die im Raum zu schweben scheinen. Die Kriterien, die der Auswahl und Einteilung der Projekte zugrunde lagen, spiegeln sich sowohl im Bildband als auch in der Ausstellung wider, jedoch auf unterschiedliche Weise. Im Buch werden die „Kategorien“ durch kritische, analytische Texte sowie in einem „Hypertex“‘ beschrieben. Der Ausstellungsraum hingegen ist mit modularen Strukturen aus Holz und Wabenkartonplatten gestaltet, die in verschiedenen Kombinationen angeordnet sind, wobei die Wände leer bleiben und die eingangs gestellte Frage nach der Südtiroler Architektur – symbolisch und kritisch – in den Mittelpunkt des Raums gerückt wird.