Backstein im Bauch
In Belgien experimentieren Architekten auf unkonventionelle Weise mit dem Ziegelstein
Belgien ist das Land des Backsteins. Egal, ob man nun nach Flandern oder in die Wallonie schaut, über Jahrhunderte hat das Material, das aus den reichhaltigen Ton- und Lehmvorkommen des Landes schöpft, seinen Niederschlag in der Bautradition gefunden – über alle Bauaufgaben, Epochen und Stilfragen erhaben. „Een baksteen in de maag“ – so besagt eine alte flämische Redensart. Wie sehr der Backstein den Belgiern „im Bauch liegt“, sieht man seit Jahrhunderten überall. Auch heute spielt der Ziegel als kostengünstiges, leicht zu verarbeitendes Baumaterial eine überragende Rolle, zumal das Land voller eifriger Häuslebauer steckt: Über 75 Prozent der Belgier wohnt derzeit im Eigentum, vorzugsweise im Einfamilienhaus. Kein Wunder, dass auch eine jüngere Architektengeneration sich auf das lokal verfügbare Baumaterial eingeschworen hat. Allerdings verwendet sie den hartgebrannten Baustoff nicht nur in größter regionaler Fertigungsvielfalt – sie experimentiert auch in ungewöhnlicher Weise damit.
Der Architekt Pierre Hebbelinck aus dem wallonischen Liège ist mit ein Meister der Inszenierung. Seine Gebäude folgen oft einer Erzählung und haben einen inneren roten Faden, der sich durch alle Räume hindurchzieht. Das Maison Stine-Gybels, das Hebbelinck in Uccle am Brüsseler Stadtrand errichtete, scheint ideale Ausgangsbedingungen für diese Entwurfsweise mitzubringen: Laurent Stine ist ein bekannter belgischer Dokumentarfilmer, seine Frau arbeitet als Fimproduzentin. Auch der Bauplatz entbehrt nicht einer gewissen Dramatik: Das Grundstück, ein steiler und sandiger Abhang, galt lange als nur schwer bebaubar. Um möglichst viel Raum auf dem schwierigen Areal zu schaffen, hat Hebbelinck verschiedene Ebenen miteinander verzahnt und in den Hang gebaut. Die Basis bildet ein Kubus, der als Garage mit zwei Stellplätzen dient. Das 250 m² große Wohnhaus setzt sich aus zwei turmartigen Volumen zusammen, die im spitzen Winkel aufeinandertreffen. Steile, außen liegende Treppen verbinden die Geschosse miteinander, schmale Wege führen in Form einer Spirale um den Wohnbau herum. Das sehr differenzierte Zusammenspiel von Form und Fassade verleiht dem Neubau eine besondere Qualität: Die ungewöhnliche, subtile Haptik der Fassaden kitzelt das Auge, ohne es zu überfrachten. Bewusst hat Hebbelinck auf den vor Ort traditionell verfügbaren Backstein zurückgegriffen. Durch den groben, zwischen den Steinen hervorquellenden Fugenmörtel wird das Mauerwerk besonders betont. Das so plastisch hervortretende Fugenrelief soll Pflanzen und Moosen Halt bieten, um die Fassade nach und nach dezent zu bewachsen. Einen starken Gegensatz zu dieser fast märchenhaft wirkenden Ansicht bilden die dreigeschossige, industriell vorgefertigte Vorhangfassade an der Straßenfront und die verschieden großen Fenster- und Türenformate, die sich in das Mauerwerk schneiden. Eines dürfte sicher sein: Architekt und Bauherr mußten nicht lange über das Äußere diskutieren, schwamm bereits auf einer gemeinsamen Welle. Schließlich hat Laurent Stine vor einigen Jahren seiner Vorliebe für zeitgenössische Backsteinarchitektur mit seiner Dokumentation „Qui n'a pas peur de l'architecture?“ (Wer hat keine Angst vor Architektur?) bereits professionellen Ausdruck verliehen.
„Rabbit Hole“(dt. Kaninchenbau) heisst das Haus, das Bart Lens von Lens°Ass aus dem limburgischen Hasselt entworfen haben. Südwestlich von Brüssel gelegen, steht es nahe der Orstschaft Gaasbeek im malerisch gewellten Pajottenland. Der Bestand eines kleinen, mit den Jahren verkommenen Bauernhofes an einer Landstraße wurde von einem Tierarzt erworben, der das Anwesen zu Praxisund Wohnhaus umbauen ließ. Um das Konglomerat von Gebäuden neu zu ordnen und den Hof zur Straße zu verschließen, entwickelten die Architekten einen Erschließungstrichter. Der bietet nicht nur durch seine sich sowohl verjüngende wie krümmende Wand- als auch abgeschrägte Dachform eine geschickt inszenierte Blickregie. In seiner Materialität wurde er ebenfalls dem Bestand angepasst: Komplett bis hin zum Dach gemauert aus dunkelrotem, mit grauem Mörtel verfugten Ziegelstein, bildet er einen skulpturalen Gegenpol zum Bestand, ohne gleichsam als Fremdkörper zu erscheinen.
Auch der Architekt Stéphane Béel aus Gent nutzt den Backstein, um seine Villa H der gewachsenen Kulturlandschaft anzupassen. Das Raumprogramm bringt er dabei in zwei einzelnen Volumen unter, die auf einem lang gestreckten Podium ruhen und in ihrer abstrakten Geometrie den archaischen Grundtypus des Hauses zitieren. Zwischen beiden Häusern – im einem der beiden befinden sich die Garage und weitere Nebenräume – entsteht ein streng gerichteter, exponierter Platzraum. Alle Fassaden einschließlich des Satteldaches wurden aus einem mehrschaligen, grauem Ziegelmauerwerk gebildet – alle Innenflächen als Kontrast dazu verputzt. Im Landschaftsbild harmoniert das angenehm mit den bestehenden Gebäuden und fügt sich auch proportional subtil in die Topographie ein. In ihrem zeitgenössisch skulpturalen Ausdruck fügen die beden Backsteinskulpturen dem Landschaftsbild eine neue, Tradition und Moderne miteinander dicht verknüpfende Nuance hinzu.
www.pierrehebbelinck.net
www.lensass.be
www.stephanebeel.com
Architekten:
Atelier D'Architecture P. Hebbelinck
www.pierrehebbelinck.net
Lens°Ass Architects
www.lensass.be
Stéphane Beel Architects
www.stephanebeel.com