Auf die Dächer, fertig, los!
Das Potenzial unserer Dächer ist immens – eine „Roof City“ könnte bald real werden
Ein Dach über dem Kopf – das ist ein Grundbedürfnis aller Menschen. Die Erkenntnis, dass Dächer noch mehr als nur den Schutz vor Wind und Wetter bieten können, spielt in hiesigen Breiten bisher allerdings eher eine untergeordnete Rolle. Deutschlands Dachflächen sind oft getaucht in ein tristes Kiesgrau – zumal, wenn es sich um vorhandenen Bestand bei Nachkriegsbauten handelt.
Dächer als Problemlöser
Schon vor 100 Jahren fragte der Avantgarde-Architekt und moderne Architekturprediger Le Corbusier seine Leser: „Ist es nicht wahrhaft wider alle Logik, wenn eine ganze Stadtoberfläche ungenutzt und der Zwiesprache der Schiefer mit den Sternen vorbehalten bleibt?“ Zwischenzeitlich hat sich an dem Status quo nicht wahnsinnig viel geändert. Zwar werden Gründächer schon des längeren als Maßnahme zur heimischen Energieeinsparung genutzt. Erst in den letzten Jahren wird im Zuge von zunehmender städtischer Nachverdichtung einerseits und notwendigen Anpassungsstrategien an den Klimawandel andererseits das Umprogrammieren der Dächer in den Städten verstärkt gefordert – und auch gefördert. So ist das Gründach seit einigen Jahren auch auf der Förderliste vieler deutscher Kommunen gelandet. Die Dachbegrünung gilt als ein wichtiger Zukunftsbaustein, um die Ökobilanz der Städte aufzuwerten. Wie jede andere Grünfläche binden auch begrünte Dachflächen CO₂ und bis zu 20 Prozent Staub aus der Luft. Schon ein extensiv bepflanztes, also nur mit einer geringen Bodensubstratschicht von 15 cm Höhe belegtes Gründach kann rund 1,5 kg CO₂/m² aufnehmen. Außerdem sind die Gründächer ein hervorragendes Reservoir für Niederschlagswasser: Klimawandelbedingte Starkregen, die über den Städten zunehmend niedergehen, können auf Pflanzdächern um bis zu 95 Prozent zurückgehalten werden. Ein Großteil der Wassermengen wird dabei im Substrat der Pflanzen gespeichert. Anschließend verdunstet das Wasser größtenteils – mit dem Zusatzgewinn, dass das urbane Mikroklima abgekühlt wird. Das übrige Niederschlagswasser fließt zeitverzögert in die Kanalisation ab.
Für eine Stadt wie Rotterdam ist die Wasserspeicherfähigkeit der Dächer mittlerweile zur Existenzfrage geworden. Das bestehende Kanalsystem der niederländischen, weitgehend unterhalb des Meeresspiegels liegenden Metropole ist bei Starkregen extrem überlastet, was zunehmend zu Überflutungen führt. Seit einigen Jahren fördert die Kommune daher die Begrünung von Dächern – zumal die im 2. Weltkrieg von deutschen Bombenangriffen stark zerstörte Hafenstadt über die meisten Flachdächer des Landes verfügt. In verschiedenen Test Sites wird dabei die smarte Speicherung von Regenwasser auf dem Dach in unterschiedlichsten Kontexten untersucht.
Modellfall Rotterdam
Bemerkenswert ist, dass es der Metropole, die immer schon ein Hotspot für Innovationen in der Stadtplanung war, nicht allein um das Regenwassermanagement geht. Es geht auch um eine neue urbane Stadtkultur der Dächer: So werden seit Jahren in einem Public-Private-Partnership jährlich die Rotterdam Rooftop Days organisiert – ein verlängertes Juniwochenende, an dem auch Dächer besucht werden können, die im Privatbesitz oder so ungesichert sind, dass sie normalerweise unbegehbar sind. Dort werden spannende Showevents, Workshops, Konzerte und Partys organisiert. Ziel ist es dabei immer auch, in der Bevölkerung ein Bewusstsein für das Dach und seine Potenziale zu entwickeln. Aber auch im Alltagsgeschäft der Stadtplanung spielt das Dach zunehmend eine Schlüsselrolle: Mittlerweile werden die Dachflächen in der Innenstadt – immerhin mehr als ein Quadratkilometer bisher nahezu ungenutztes Brachland! – systematisch auf ihr Potenzial hin analysiert und kartografiert.
Welcome in Roof City
Eine differenzierte, je nach Standort, Gebäude-, Dach- und Eigentumsstruktur spezifizierte Vernetzung der Dächer wird dabei erstmals zum erklärten Ziel. Neben Dächern, die als Grün- und Urban Farming-Oase mit Regenwasserrückhalt dienen, gibt es andere, die der Energieerzeugung mit Solar- und PV-Zellen vorbehalten sind, oder auch Überlagerungen von diesen Funktionen. Weitere sind als öffentliche Begegnungsdächer programmiert oder dienen dagegen nur dem privaten Wohnen. Ein Schlüssel zu einer zusammenhängenden zweiten Stadtschicht über der vorhandenen Stadt sind dabei die Verbindungen zwischen den Gebäuden. Nachdem in Rotterdam bei den Rooftop Days in den Vorjahren schon erste Erfahrungen mit über Seile verspannten Hochklettergärten zwischen den Hochbauten gesammelt wurden, wird es dieses Jahr (4.–7. Juni 2020) erstmals auch mehrere, belastbare Luftbrücken geben, die zwischen die Gebäude gespannt werden. In Kooperation mit dem Rotterdamer Architekturbüro MVRDV entsteht zentral vor dem Hauptbahnhof ein Rooftop Parcours mit mehreren temporären Brücken, die mehrere „Straßen-Canyons“ zwischen Hoch-, Büro- und Kaufhäusern überwinden. Zumindest in Europa wäre es das erste Mal, dass im größeren Maßstab das Erlebnis einer vom Straßenraum losgelösten „Roof City“ möglich wird.
Fotos:
Ossip van Duivenbode
www.ossip.nl
Paul Andreas
(Erschienen in CUBE 01|20)