Elan und Erfahrung
Prof. Dipl.-Ing. Michael Schumacher über Wohnraum, Bürgerbeteiligung und große Würfe
CUBE: Worum ging es bei Ihrem Modellprojekt mit der ABG Frankfurter Wohnungsbaugesellschaft in Oberrad?
Michael Schumacher: Grundgedanke des Projekts war, ein Wohngebäude in einer Stadt mit hohen Grundstückspreisen zu entwerfen, das bei guter Qualität zu einer Kaltmiete von maximal 10 Euro/m² vermietet werden kann. Zusammen mit einem Haustechniker und einem Tragwerksplaner haben wir im Team ein Haus entworfen, das bei sehr niedrigen Baukosten von 1.477 Euro/m² Wohnfläche brutto dennoch sowohl in der Materialität als auch unter energetischen Aspekten anständig ist. Aufgrund der hohen Energiestandards der ABG sind die Häuser im Bau relativ teuer. Bestimmte Dinge wie Vor- und Rücksprünge oder Türmchen, die Architektur im Grunde reizvoll machen, sind dann nicht möglich – oder nur zu doppelten Kosten. Wir mussten also kompakt bauen. Der wesentlichste Schritt auf der Konzeptebene war, dass wir keine innenliegenden Treppenhäuser gebaut, sondern die Treppen davor gestellt und mit den Balkonen kombiniert haben. Wenn man das bewohnbare Volumen auf ein einfaches Rechteck reduziert, kann man etwas optimieren und günstiger bauen. Das ist gewissermaßen wie beim Auto: Ob ein Auto wie ein SUV 1.800 kg wiegt oder ein kleineres Auto eben nur 1.000 kg macht einen Unterschied beim Verbrauch.
War Barrierefreiheit nicht wichtig?
Natürlich kann man Barrierefreiheit, geringen Energieverbrauch, tolle Ästhetik, gesunde Materialien oder alternative Energieformen fordern – aber das kostet. Bei dem Projekt mit der ABG haben wir versucht, zwischen den Wünschen und Kosten einen anständigen Kompromiss zu finden. Unsere Lösung für die Frage, wie wir möglichst kostengünstig, unter Einhaltung der hohen Energiestandards, bauen können, lag in den außenliegenden Treppenhäusern. Aufzüge kann man bei Bedarf nachrüsten.
Wie beurteilen Sie ein mögliches Baugebiet im Frankfurter Norden?
Ich finde Nachverdichtung naheliegender als ein neues Wohngebiet. Wir machen gerade für die ABG eine Studie, wo überall Nachverdichtung möglich wäre. Es gibt viele Flächen, die nicht sehr dicht besiedelt sind. Und ich nehme nicht China als Beispiel, wo wir ja auch arbeiten. Frankfurt ist eine der grünsten Städte Deutschlands. Ein Blick auf den Stadtplan zeigt, dass es reichlich Flächen gäbe. Und da fahren bereits Busse und Bahnen und liegen schon Glasfaserleitungen. Es wäre also alles vorhanden, um Menschen stadtnah gut unterzubringen. Nur gibt es da beispielsweise Schrebergärten. Vernünftig ist das angesichts des Wohnungsmangels nicht – wenn auch aus Sicht der Schrebergartenbesitzer verständlich. Und aus Politikersicht ist es natürlich nicht attraktiv, laut zu überlegen, ob man nicht an diese Flächen ran sollte. Denn dann wird man nicht mehr gewählt. Die vielen Partikularinteressen sind heute auf allen Ebenen ein echtes Problem: Es gibt Brandschutz-, Dämm- und Energieverordnungen usw. Im Einzelnen alles vernünftig. Aber alle Partikularinteressen müssen zusammenkommen. Und bei den Bürgern ist es ähnlich: Die möchten jeden Baum erhalten UND günstige Mieten. Solche einander widersprechenden Ziele gibt es viele. Die aufzuklären war immer auch ein Job des Architekten und natürlich auch des Politikers, denn der muss letztlich eine vernünftige Gesamtabwägung vertreten.
Wie könnte man solche entgegengesetzten Ziele verdeutlichen?
Ich habe ein tolles Bürgerbeteiligungs-Verfahren in Hofheim erlebt, wo eine Bibliothek in einer Sparkasse gebaut werden soll. Es gab Wettbewerbe, über deren Ergebnisse sich die Bürger aufgeregt und der Verwaltung Unfähigkeit vorgeworfen hatten. Und dann gab es eine Veranstaltung, bei der sich vier Architekturbüros mit ihren Entwürfen vorstellen mussten. Anschließend konnten die Bürger u. a. mit roten oder grünen Kärtchen zum Ausdruck bringen, was an einem Entwurf sie gut und was sie nicht gut finden. Nach einer weiteren Stunde haben die Moderatoren alle Projekte vorgestellt und man konnte sehen, dass bei jedem Projekt ungefähr so viele rote wie grüne Zettelchen klebten. Man konnte also erkennen, dass der eine Giebeldächer ganz toll findet und der andere nicht. Das hat aufgezeigt, wie heikel so eine Gesamtentscheidung eigentlich ist. Und das hat auch sichtbar gemacht, dass man ziemlich tief in einen Planungsprozess reinsehen muss, um Entscheidungen zu treffen, wie beispielsweise die, ob ein Baum erhalten oder gefällt werden sollte. Wir wägen fast den ganzen Tag ab zwischen Baukosten, Energieverordnungen, Denkmalschutz und Barrierefreiheit, um eine komplexe Lösung anbieten zu können, die am Ende möglichst die meisten Vorteile vereint, oder bei der die relevantesten Vorteile vereint wurden.
Hat sich verändert, wie Bürger mit Architektur und Stadt umgehen?
Ja, sehr sogar. Zum Guten und zum Schlechten – wie es im Leben eigentlich immer so ist. Gut ist, dass die Menschen sich mehr für Architektur und Stadtplanung interessieren. Beim Beispiel Hofheim hat mich – auch im positiven Sinne – erstaunt, wie viele Leute sich für diese Bibliothek interessiert haben, die ihr unmittelbares Lebens- oder Wohnumfeld nicht so direkt betrifft wie besagte Schrebergärten oder Bäume. Die negative Seite ist die, dass nicht zuletzt auch durch das Internet falsche Dinge verbreitet und Meinungen kundgetan werden, die es sehr erschweren, noch zu guten und vernünftigen Gesamtabwägungen zu kommen.
Wie könnte man dem entgegenwirken?
Beispielsweise mit geeigneten Moderationsverfahren. Und natürlich muss auch die Politik ebenso wie der Planer Verantwortung übernehmen und sagen: Wir haben alle Aspekte betrachtet, abgewogen und uns aus den und den Gründen für diese oder jene Variante entschieden, weil sie uns am vernünftigsten erschien. Letztlich ist es bei allem so, dass es Vor- und Nachteile gibt und ein guter Politiker kann erklären, warum etwas mehr Vor- als Nachteile hat. So wie ein Planer es eben auch tun kann und muss, wenn er abwägt zwischen Nord- und Südbalkon oder Ähnlichem. Eigentlich ist die Beteiligung der Bürger schon eine gute Sache. Es braucht nur jemanden, der klar macht, dass es nicht um ein Wunschkonzert geht, sondern dass Gesamtabwägungen getroffen werden müssen. Das gilt auch für Verfahren der Bürgerbeteiligung. Und die Argumente, seien es Kosten, Energieverbrauch oder was auch immer, die muss man dann gut kommunizieren. Mir scheint, dass Politiker heute mehr Muffensausen haben. Aber wir haben eine repräsentative Demokratie, da ist es eigentlich Pflicht, dass Politiker Entscheidungen treffen und vertreten. Ich glaube aber auch, dass es heute schwieriger ist, denn Politiker müssen heute härtere Attacken von Bürgern fürchten als früher. Es gibt – und auch das ist sowohl gut als auch schlecht – weniger Autoritätsgläubigkeit.
Sie arbeiten seit 30 Jahren in Frankfurt, bauen europaweit und auch in China. Falls Sie es da überhaupt benennen können: Welcher Ihrer Bauten ist Ihr liebster?
Da gibt es natürlich einige. Aber die Städelerweiterung ist sicher der am emotionalsten Besetzte und daher auch so wichtig für mich. Till und ich haben in der Städelschule studiert und das war für uns beide der Sprung in eine andere Welt. Denn als wir nach Frankfurt kamen, waren wir Provinzpomeranzen, die plötzlich in einem internationalen Umfeld studieren konnten. Das hat uns stark beeinflusst. Daher hatten wir beide eine große emotionale Beziehung zu dem Erweiterungsbau. Ich könnte aber auch den Westhafen-Tower nennen, wo wir mit unserem Büro begonnen haben, das Büro für J. Walter Thompson, die Autobahnkirche im Siegerland oder auch die Info-Box in Berlin, die für uns als Büro wichtig war.
Ich finde es oft nicht leicht etwas hinzubekommen, was mir sehr wichtig ist. Ist Ihnen der Städel-Entwurf leicht von der Hand gegangen?
Nein. Sie sprechen ja genau diesen inneren Druck und die fehlende Leichtigkeit an, wenn etwas Wichtiges ansteht. Der Druck war groß und es war alles andere als leicht. Erschwerend kam hinzu, dass Max Hollein, damals Direktor, eigentlich gar keinen unterirdischen Bau wollte. Schließlich musste er Geld für das Bauvorhaben „einsammeln“, denn das Städel wurde ja zur Hälfte durch Bürgerspenden finanziert. Da er vorher beim Guggenheim-Museum in New York war, wollte er eigentlich eine Art Bilbao-Effekt, also das Gebäude als Träger einer Kulturidee. Unter den Umständen auch noch mit einem Kellergeschoss zu kommen, war heikel. Das war uns klar. Ganz zu schweigen davon, dass Menschen in der Regel nicht gerne in die Tiefe oder auf B-Ebenen gehen. Unser großer Wurf, wenn man so will, war, das Kellergebäude mit dem emblematischen, klar erkennbaren und nachvollziehbaren Hügel zu verbinden. Das war etwas, was man sich merkt, was assoziationsfähig ist – gleich, ob man nun an Teletubbies oder den grünen Hügel denkt. Um diese Idee haben wir aber hart gekämpft. Till Schneider, Kai Otto und ich haben uns echt um die Sache gefetzt. Alle meinten, dass es unterirdisch sein müsse, weil so der Zugang zu den Räumen eine große Logik hätte – und ich war dagegen, weil ich dachte, dass es nicht funktioniert. Irgendwann hatten wir die Idee, den Bau in der Mitte aufzuwölben und mit den Oberlichtern zu versehen. Ab da war es dann ganz leicht, weil wir wussten, dass es für uns funktioniert und wir die logischen und pragmatischen Vorteile mit einer ästhetischen Vision verbinden konnten.
Wie wichtig sind Erfahrungen in so einem Zusammenhang? Mir scheint in vielen Bereichen eine Art Jugendwahn vorzuherrschen, weil man sich so neue Ideen oder Visionen erhofft. Aber ich denke, dass viele Erfahrungen gemacht zu haben, auch wichtig für das Ergebnis ist.
Das ist schon so. Aber Sie bringen mich in ein Dilemma. Ich bin ja schon ein etwas älterer Mensch und ich möchte auch nicht ungerecht gegenüber dem jugendlichen Elan sein. In der Architektur ist es so, dass man eine frische Herangehensweise braucht. Natürlich ist Erfahrung genauso wichtig. Der Städelbau beispielsweise schwamm in der Baustellenphase wegen des hohen Grundwassers auf und musste zeitgleich in einen Altbau integriert werden. Da war neben der Erfahrung auch Ingenieurbaukunst gefragt – ein Begriff, der mir übrigens sehr gefällt. Immerhin haben wir einige tolle Bauten auf der Welt, wie z. B. den Eiffel-Turm, einem Ingenieur zu verdanken. Ingenieure waren damals allerdings allgemein gebildet, hatten ein ästhetisches Bewusstsein und waren keine Rechenknechte. Menschen wie Gustave Eiffel hatten eine Vision und ein Handwerk, mit dem sie das umsetzen konnten. Das ist die Kunst in der Architektur, dass man in der schnöden Materie eine geistige Idee spürt.
Ingenieurbaukunst, ein Begriff, der auch – scheinbare – Gegensätze vereint. Im Gespräch fielen außerdem Wörter wie Abwägung, Kompromisse, Zielkonflikte. Welche Eigenschaften sollten Architekten mitbringen?
Architekten müssen natürlich einen Sinn für Ästhetik und Konstruktion mitbringen. Das Wichtigste ist vielleicht, dass sie in der Lage sind, eine „innere Welt“ in sich zu erzeugen, stimmig und der jeweiligen Aufgabe entsprechend. Außerdem müssen sie über die Fähigkeit verfügen, alle Beteiligten davon zu überzeugen, dass diese erdachte Welt Wirklichkeit werden muss.
Herr Schumacher, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Astrid Biesemeier.
PROF. MICHAEL SCHUMACHER
wurde 1957 in Krefeld geboren. Seit 30 Jahren gibt es das Architekturbüro schneider+schumacher in Frankfurt. Mit der Info-Box am Potsdamer Platz wurden die Architekten weltweit bekannt. Seitdem sind zahlreiche preisgekrönte architektonische und städtebauliche Projekte entstanden, wie z. B. die Erweiterung des Städel Museums in Frankfurt. In der angrenzenden Städelschule eigneten sich Till Schneider und Michael Schumacher unter Peter Cook ihre Haltung zur Architektur an – den poetischen Pragmatismus.
In Frankfurt stammen unter anderem der Westhafen-Tower oder auch das Büro für J. Walter Thompson auf der Hanauer Landstraße von dem Büro, das inzwischen auch in Wien und China Standorte hat. Gerade fertig geworden und bald bezugsfähig ist ein angesichts der Wohnungsknappheit wichtiges Modellprojekt in Oberrad mit einer Nettokaltmiete von maximal 10 Euro/m2.