Zur Kunst gefunden
Das Mies van der Rohe Haus am Obersee
Manchmal ist es ein kleines, unscheinbares Haus, in dem sich die ganze Ideenwelt der frühmodernen Architektur wie in einem Brennglas bündelt. Das Haus Lemke am Obersee in Berlin-Hohenschönhausen ist so ein Gebäude: Es war das letzte Werk, das Mies van der Rohe vor seiner Auswanderung in die Vereinigten Staaten in Deutschland vollendete. Mies, schon auf der Schwelle zum großen Erfolg, dürfte der Auftrag des Druckereibesitzers Lemke für ein bescheiden dimensioniertes bürgerliches Haus damals wenig imponiert haben, trotzdem tüftelte er lange an den Plänen bis die endgültige Form des Hauses fest stand. Durch das Entrée gelangt man in die beiden länglichen, im 90-Grad-Winkel angeordneten Arbeits- und Wohnräume, an diese schließen sich das Schlafzimmer sowie bescheidene Nebenräume an.
1933 wurde der winkelförmig zum Garten geöffnete Bau mit seiner ebenmäßigen, roten Ziegelfassade fertig gestellt. Karl Lemke und seine Frau konnten ihr Heim am See nur 12 Jahre genießen, 1945 wurden sie von der Roten Armee, die das Haus beschlagnahmte, zum Auszug gezwungen. Die Villa wurde als Garage und Abstellraum benutzt, später zogen hier und in die umliegenden Gebäude Mitarbeiter des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit ein. Bis zur Wende wurde das – inzwischen durch eine Reihe von Umbauten entstellte Haus – als Wäscherei und Kantine für Stasi-Mitarbeiter genutzt. Angesicht einer so wechselvollen Geschichte verwundert es, dass das Gebäude überhaupt noch da ist. Erst in den Jahren 2000 – 2002 konnte die verbliebene, originale Bausubstanz behutsam saniert werden; zugleich wurde in akribischer Kleinarbeit anhand von Fotos, Plänen und Relikten der Originalausstattung das ursprüngliche Erscheinungsbild detailgetreu wieder hergestellt, beispielsweise die schlossermässig gefertigten Türen und Fenster der beiden raumhohe Terrassenverglasungen.
Dieses Hausmodell war der Prototyp des eingeschossigen, gartenorientierten Hauses, das in den Nachkriegsjahrzehnten Bungalow hieß und hunderttausendfach in westdeutschen Vorstädten errichtet wurde – jedoch so gut wie nie in so perfekter Detaillierung und Proportion wie hier. Seit seiner Sanierung wird das Gebäude vom Bezirk Berlin-Hohenschönhausen und dem Verein der Freunde des Mies van der Rohe Hauses als Galerie für raumbezogene Bildende Kunst betrieben. Neben den wechselnden Ausstellungen organisiert der Verein Architekturvorträge und andere Veranstaltungen. Mies van der Rohes Enkel war auch schon zu Gast.
Das Mies van der Rohe Haus ist heute ein überaus charmanter Ort, an den man immer wieder gerne zurückkehrt. Vielleicht hat das Gebäude mit seinem zweiten Leben als Ort der Kunst sogar zu seiner eigentlichen Bestimmung gefunden. Im Sommer sind Haus, Terrasse und Garten immer wieder Schauplatz beschwingter Feste; im Winter, an sonnigen Tagen, wenn der an den Garten anschließende Obersee zugefroren ist und See und Garten schneebedeckt, dann stahlt die weiße Landschaft gleißend ins Haus, die Räume sind lichtdurchflutet und man versteht endlich, was die Architekten der 1920er Jahre meinten, als sie den Mensch beglücken wollten mit „Licht, Luft und Sonne“. In diesem Haus kann man mitten im Januar in Licht und Sonne baden.
www.miesvanderrohehaus.de
Mies van der Rohe Haus
www.miesvanderrohehaus.de
Fotos
Reiner Hausleitner
www.hausleitner-photographie.de
Harf Zimmermann
www.harfzimmermann.com